Kafka: "Die Verwandlung"
METAMORPHOSEN:
Bildnerische Betrachtungen zu Kafkas "Die Verwandlung"
Potloodtekeningen van Martin
Linnartz,geinspireerd door Kafka's Metamorphosis
III
ie
schwere Verwundung Gregors, an der er über einen Monat litt der
Apfel blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte, als sichtbares Andenken
im Fleische sitzen , schien selbst den Vater daran erinnert zu
haben, daß Gregor trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften
Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln
durfte, sondern demgegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den
Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden.
Und wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit wahrscheinlich
für immer verloren hatte und vorläufig zur Durchquerung seines Zimmers
wie ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte an das Kriechen
in der Höhe war nicht zu denken , so bekam er für diese Verschlimmerung
seines Zustandes einen seiner Meinung nach vollständig genügenden Ersatz
dadurch, daß immer gegen Abend die Wohnzimmertür, die er schon ein bis
zwei Stunden vorher scharf zu beobachten pflegte, geöffnet wurde, so
daß er, im Dunkel seines Zimmers liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar,
die ganze Familie beim beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermaßen
mit allgemeiner Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte.
Freilich waren es nicht mehr die lebhaften Unterhaltungen der früheren
Zeiten, an die Gregor in den kleinen Hotelzimmern stets mit einigem
Verlangen gedacht hatte, wenn er sich müde in das feuchte Bettzeug hatte
werfen müssen. Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief
bald nach dem Nachtessen in seinem Sessel ein; die Mutter und Schwester
ermahnten einander zur Stille; die Mutter nähte, weit unter das Licht
vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft; die Schwester, die eine
Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie
und Französisch, um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu
erreichen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse er gar nicht,
daß er geschlafen habe, sagte er zur Mutter: »Wie lange du heute schon
wieder nähst!« und schlief sofort wieder ein, während Mutter und Schwester
einander müde zulächelten. Mit einer Art Eigensinn weigerte sich der
Vater, auch zu Hause seine Dieneruniform abzulegen; und während der
Schlafrock nutzlos am Kleiderhaken hing, schlummerte der Vater vollständig
angezogen auf seinem Platz, als sei er immer zu seinem Dienste bereit
und warte auch hier auf die Stimme des Vorgesetzten. Infolgedessen verlor
die gleich anfangs nicht neue Uniform trotz aller Sorgfalt von Mutter
und Schwester an Reinlichkeit, und Gregor sah oft ganze Abende lang
auf dieses über und über fleckige, mit seinen stets geputzten Goldknöpfen
leuchtende Kleid, in dem der alte Mann höchst unbequem und doch ruhig
schlief. Sobald die Uhr zehn schlug, suchte die Mutter durch leise Zusprache
den Vater zu wecken und dann zu überreden, ins Bett zu gehen, denn hier
war es doch kein richtiger Schlaf, und diesen hatte der Vater, der um
sechs Uhr seinen Dienst antreten mußte, äußerst nötig. Aber in dem Eigensinn,
der ihn, seitdem er Diener war, ergriffen hatte, bestand er immer darauf,
noch länger bei Tisch zu bleiben, trotzdem er regelmäßig einschlief,
und war dann überdies nur mit der größten Mühe zu bewegen, den Sessel
mit dem Bett zu vertauschen. Da mochten Mutter und Schwester mit kleinen
Ermahnungen noch so sehr auf ihn eindringen, viertelstundenlang schüttelte
er langsam den Kopf, hielt die Augen geschlossen und stand nicht auf.
Die Mutter zupfte ihn am Ärmel, sagte ihm Schmeichelworte ins Ohr, die
Schwester verließ ihre Aufgabe, um der Mutter zu helfen, aber beim Vater
verfing das nicht. Er versank nur noch tiefer in seinen Sessel. Erst
als ihn die Frauen unter den Achseln faßten, schlug er die Augen auf,
sah abwechselnd die Mutter und die Schwester an und pflegte zu sagen:
»Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe meiner alten Tage.« Und auf die
beiden Frauen gestützt, erhob er sich, umständlich, als sei er für sich
selbst die größte Last, ließ sich von den Frauen bis zur Türe führen,
winkte ihnen dort ab und ging nun selbständig weiter, während die Mutter
ihr Nähzeug, die Schwester ihre Feder eiligst hinwarfen, um hinter dem
Vater zu laufen und ihm weiter behilflich zu sein. Wer hatte in dieser
abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu
kümmern, als unbedingt nötig war? Der Haushalt wurde immer mehr eingeschränkt;
das Dienstmädchen wurde nun doch entlassen; eine riesige knochige Bedienerin
mit weißem, den Kopf umflatterndem Haar kam des Morgens und des Abends,
um die schwerste Arbeit zu leisten; alles andere besorgte die Mutter
neben ihrer vielen Näharbeit. Es geschah sogar, daß verschiedene Familienschmuckstücke,
welche früher die Mutund die Schwester überglücklich bei Unterhaltungen
und Feierlichkeiten getragen hatten, verkauft wurden, wie Gregor am
Abend aus der allgemeinen Besprechung der erzielten Preise erfuhr. Die
größte Klage war aber stets, daß man diese für die gegenwärtigen Verhältnisse
allzu große Wohnung nicht verlassen konnte, da es nicht auszudenken
war, wie man Gregor übersiedeln sollte. Aber Gregor sah wohl ein, daß
es nicht nur die Rücksicht auf ihn war, welche eine Übersiedlung verhinderte,
denn ihn hätte man doch in einer passenden Kiste mit ein paar Luftlöchern
leicht transportieren können; was die Familie hauptsächlich vom Wohnungswechsel
abhielt, war vielmehr die völlige Hoffnungslosigkeit und der Gedanke
daran, daß sie mit einem Unglück geschlagen war, wie niemand sonst im
ganzen Verwandten- und Bekanntenkreis. Was die Welt von armen Leuten
verlangt, erfüllten sie bis zum äußersten, der Vater holte den kleinen
Bankbeamten das Frühstück, die Mutter opferte sich für die Wäsche fremder
Leute, die Schwester lief nach dem Befehl der Kunden hinter dem Pulte
hin und her, aber weiter reichten die Kräfte der Familie schon nicht.
Und die Wunde im Rücken fing Gregor wie neu zu schmerzen an, wenn Mutter
und Schwester, nachdem sie den Vater zu Bett gebracht hatten, nun zurückkehrten,
die Arbeit liegenließen, nahe zusammenrückten, schon Wange an Wange
saßen; wenn jetzt die Mutter, auf Gregors Zimmer zeigend, sagte: »Mach'
dort die Tür zu, Grete«, und wenn nun Gregor wieder im Dunkel war, während
nebenan die Frauen ihre Tränen vermischten oder gar tränenlos den Tisch
anstarrten. Die Nächte und Tage verbrachte Gregor fast ganz ohne Schlaf.
Manchmal dachte er daran, beim nächsten Öffnen der Tür die Angelegenheiten
der Familie ganz so wie früher wieder in die Hand zu nehmen; in seinen
Gedanken erschienen wieder nach langer Zeit der Chef und der Prokurist,
die Kommis und die Lehrjungen, der so begriffsstützige Hausknecht, zwei,
drei Freunde aus anderen Geschäften, ein Stubenmädchen aus einem Hotel
in der Provinz, eine liebe, flüchtige Erinnerung, eine Kassiererin aus
einem Hutgeschäft, um die er sich ernsthaft, aber zu langsam beworben
hatte sie alle erschienen untermischt mit Fremden oder schon
Vergessenen, aber statt ihm und seiner Familie zu helfen, waren sie
sämtlich unzugänglich, und er war froh, wenn sie verschwanden. Dann
aber war er wieder gar nicht in der Laune, sich um seine Familie zu
sorgen, bloß Wut über die schlechte Wartung erfüllte ihn, und trotzdem
er sich nichts vorstellen konnte, worauf er Appetit gehabt hätte, machte
er doch Pläne, wie er in die Speisekammer gelangen könnte, um dort zu
nehmen, was ihm, auch wenn er keinen Hunger hatte, immerhin gebührte.
Ohne jetzt mehr nachzudenken, womit man Gregor einen besonderen Gefallen
machen könnte, schob die Schwester eiligst, ehe sie morgens und mittags
ins Geschäft lief, mit dem Fuß irgendeine beliebige Speise in Gregors
Zimmer hinein, um sie am Abend, gleichgültig dagegen, ob die Speise
vielleicht nur verkostet oder der häufigste Fall gänzlich
unberührt war, mit einem Schwenken des Besens hinauszukehren. Das Aufräumen
des Zimmers, das sie nun immer abends besorgte, konnte gar nicht mehr
schneller getan sein. Schmutzstreifen zogen sich die Wände entlang,
hie und da lagen Knäuel von Staub und Unrat. In der ersten Zeit stellte
sich Gregor bei der Ankunft der Schwester in derartige besonders bezeichnende
Winkel, um ihr durch diese Stellung gewissermaßen einen Vorwurf zu machen.
Aber er hätte wohl wochenlang dort bleiben können, ohne daß sich die
Schwester gebessert hätte; sie sah ja den Schmutz genau so wie er, aber
sie hatte sich eben entschlossen, ihn zu lassen. Dabei wachte sie mit
einer an ihr ganz neuen Empfindlichkeit, die überhaupt die ganze Familie
ergriffen hatte, darüber, daß das Aufräumen von Gregors Zimmer ihr vorbehalten
blieb. Einmal hatte die Mutter Gregors Zimmer einer großen Reinigung
unterzogen, die ihr nur nach Verbrauch einiger Kübel Wasser gelungen
war die viele Feuchtigkeit kränkte allerdings Gregor auch und
er lag breit, verbittert und unbeweglich auf dem Kanapee , aber
die Strafe blieb für die Mutter nicht aus. Denn kaum hatte am Abend
die Schwester die Veränderung in Gregors Zimmer bemerkt, als sie, aufs
höchste beleidigt, ins Wohnzimmer lief und, trotz der beschwörend erhobenen
Hände der Mutter, in einen Weinkrampf ausbrach, dem die Eltern
der Vater war natürlich aus seinem Sessel aufgeschreckt worden
zuerst erstaunt und hilflos zusahen; bis auch sie sich zu rühren anfingen;
der Vater rechts der Mutter Vorwürfe machte, daß sie Gregors Zimmer
nicht der Schwester zur Reinigung überließ; links dagegen die Schwester
anschrie, sie werde niemals mehr Gregors Zimmer reinigen dürfen; während
die Mutter den Vater, der sich vor Erregung nicht mehr kannte, ins Schlafzimmer
zu schleppen suchte; die Schwester, von Schluchzen geschüttelt, mit
ihren kleinen Fäusten den Tisch bearbeitete; und Gregor laut vor Wut
darüber zischte, daß es keinem einfiel, die Tür zu schließen und ihm
diesen Anblick und Lärm zu ersparen. Aber selbst wenn die Schwester,
erschöpft von ihrer Berufsarbeit, dessen überdrüssig geworden war, für
Gregor, wie früher, zu sorgen, so hätte noch keineswegs die Mutter für
sie eintreten müssen und Gregor hätte doch nicht vernachlässigt werden
brauchen. Denn nun war die Bedienerin da. Diese alte Witwe, die in ihrem
langen Leben mit Hilfe ihres starken Knochenbaues das Ärgste überstanden
haben mochte, hatte keinen eigentlichen Abscheu vor Gregor. Ohne irgendwie
neugierig zu sein, hatte sie zufällig einmal die Tür von Gregors Zimmer
aufgemacht und war im Anblick Gregors, der, gänzlich überrascht, trotzdem
ihn niemand jagte, hin und her zu laufen begann, die Hände im Schoß
gefaltet staunend stehengeblieben. Seitdem versäumte sie nicht, stets
flüchtig morgens und abends die Tür ein wenig zu öffnen und zu Gregor
hineinzuschauen. Anfangs rief sie ihn auch zu sich herbei, mit Worten,
die sie wahrscheinlich für freundlich hielt, wie »Komm mal herüber,
alter Mistkäfer!« oder »Seht mal den alten Mistkäfer!« Auf solche Ansprachen
antwortete Gregor mit nichts, sondern blieb unbeweglich auf seinem Platz,
als sei die Tür gar nicht geöffnet worden. Hätte man doch dieser Bedienerin,
statt sie nach ihrer Laune ihn nutzlos stören zu lassen, lieber den
Befehl gegeben, sein Zimmer täglich zu reinigen! Einmal am frühen Morgen
ein heftiger Regen, vielleicht schon ein Zeichen des kommenden
Frühjahrs, schlug an die Scheiben war Gregor, als die Bedienerin
mit ihren Redensarten wieder begann, derartig verbittert, daß er, wie
zum Angriff, allerdings langsam und hinfällig, sich gegen sie wendete.
Die Bedienerin aber, statt sich zu fürchten, hob bloß einen in der Nähe
der Tür befindlichen Stuhl hoch empor, und wie sie mit groß geöffnetem
Munde dastand, war ihre Absicht klar, den Mund erst zu schließen, wenn
der Sessel in ihrer Hand auf Gregors Rücken niederschlagen würde. »Also
weiter geht es nicht?« fragte sie, als Gregor sich wieder umdrehte,
und stellte den Sessel ruhig in die Ecke zurück. Gregor aß nun fast
gar nichts mehr. Nur wenn er zufällig an der vorbereiteten Speise vorüberkam,
nahm er zum Spiel einen Bissen in den Mund, hielt ihn dort stundenlang
und spie ihn dann meist wieder aus. Zuerst dachte er, es sei die Trauer
über den Zustand seines Zimmers, die ihn vom Essen abhalte, aber gerade
mit den Veränderungen des Zimmers söhnte er sich sehr bald aus. Man
hatte sich angewöhnt, Dinge, die man anderswo nicht unterbringen konnte,
in dieses Zimmer hineinzustellen, und solcher Dinge gab es nun viele,
da man ein Zimmer der Wohnung an drei Zimmerherren vermietet hatte.
Diese ernsten Herren alle drei hatten Vollbärte, wie Gregor einmal
durch eine Türspalte feststellte waren peinlich auf Ordnung,
nicht nur in ihrem Zimmer, sondern, da sie sich nun einmal hier eingemietet
hatten, in der ganzen Wirtschaft, also insbesondere in der Küche, bedacht.
Unnützen oder gar schmutzigen Kram ertrugen sie nicht. Überdies hatten
sie zum größten Teil ihre eigenen Einrichtungsstücke mitgebracht. Aus
diesem Grunde waren viele Dinge überflüssig geworden, die zwar nicht
verkäuflich waren, die man aber auch nicht wegwerfen wollte. Alle diese
wanderten in Gregors Zimmer. Ebenso auch die Aschenkiste und die Abfallkiste
aus der Küche. Was nur im Augenblick unbrauchbar war, schleuderte die
Bedienerin, die es immer sehr eilig hatte, einfach in Gregors Zimmer;
Gregor sah glücklicherweise meist nur den betreffenden Gegenstand und
die Hand, die ihn hielt. Die Bedienerin hatte vielleicht die Absicht,
bei Zeit und Gelegenheit die Dinge wieder zu holen oder alle insgesamt
mit einemmal hinauszuwerfen, tatsächlich aber blieben sie dort liegen,
wohin sie durch den ersten Wurf gekommen waren, wenn nicht Gregor sich
durch das Rumpelzeug wand und es in Bewegung brachte, zuerst gezwungen,
weil kein sonstiger Platz zum Kriechen frei war, später aber mit wachsendem
Vergnügen, obwohl er nach solchen Wanderungen, zum Sterben müde und
traurig, wieder stundenlang sich nicht rührte. Da die Zimmerherren manchmal
auch ihr Abendessen zu Hause im gemeinsamen Wohnzimmer einnahmen, blieb
die Wohnzimmertür an manchen Abenden geschlossen, aber Gregor verzichtete
ganz leicht auf das Öffnen der Tür, hatte er doch schon manche Abende,
an denen sie geöffnet war, nicht ausgenützt, sondern war, ohne daß es
die Familie merkte, im dunkelsten Winkel seines Zimmers gelegen. Einmal
aber hatte die Bedienerin die Tür zum Wohnzimmer ein wenig offen gelassen;
und sie blieb so offen, auch als die Zimmerherren am Abend eintraten
und Licht gemacht wurde. Sie setzten sich oben an den Tisch, wo in früheren
Zeiten der Vater, die Mutter und Gregor gegessen hatten, entfalteten
die Servietten und nahmen Messer und Gabel in die Hand. Sofort erschien
in der Tür die Mutter mit einer Schüssel Fleisch und knapp hinter ihr
die Schwester mit einer Schüssel hochgeschichteter Kartoffeln. Das Essen
dampfte mit starkem Rauch. Die Zimmerherren beugten sich über die vor
sie hingestellten Schüsseln, als wollten sie sie vor dem Essen prüfen,
und tatsächlich zerschnitt der, welcher in der Mitte saß und den anderen
zwei als Autorität zu gelten schien, ein Stück Fleisch noch auf der
Schüssel, offenbar um festzustellen, ob es mürbe genug sei und ob es
nicht etwa in die Küche zurückgeschickt werden solle. Er war befriedigt,
und Mutter und Schwester, die gespannt zugesehen hatten, begannen aufatmend
zu lächeln. Die Familie selbst aß in der Küche. Trotzdem kam der Vater,
ehe er in die Küche ging, in dieses Zimmer herein und machte mit einer
einzigen Verbeugung, die Kappe in der Hand, einen Rundgang um den Tisch.
Die Zimmerherren erhoben sich sämtlich und murmelten etwas in ihre Bärte.
Als sie dann allein waren, aßen sie fast unter vollkommenem Stillschweigen.
Sonderbar schien es Gregor, daß man aus allen mannigfachen Geräuschen
des Essens immer wieder ihre kauenden Zähne heraushörte, als ob damit
Gregor gezeigt werden sollte, daß man Zähne brauche, um zu essen, und
daß man auch mit den schönsten zahnlosen Kiefern nichts ausrichten könne.
»Ich habe ja Appetit«, sagte sich Gregor sorgenvoll, »aber nicht auf
diese Dinge. Wie sich diese Zimmerherren nähren, und ich komme um!«
Gerade an diesem Abend Gregor erinnerte sich nicht, während der
ganzen Zeit die Violine gehört zu haben ertönte sie von der Küche
her. Die Zimmerherren hatten schon ihr Nachtmahl beendet, der mittlere
hatte eine Zeitung hervorgezogen, den zwei anderen je ein Blatt gegeben,
und nun lasen sie zurückgelehnt und rauchten. Als die Violine zu spielen
begann, wurden sie aufmerksam, erhoben sich und gingen auf den Fußspitzen
zur Vorzimmertür, in der sie aneinandergedrängt stehenblieben. Man mußte
sie von der Küche aus gehört haben, denn der Vater rief: »Ist den Herren
das Spiel vielleicht unangenehm? Es kann sofort eingestellt werden.«
»Im Gegenteil«, sagte der mittlere der Herren, »möchte das Fräulein
nicht zu uns hereinkommen und hier im Zimmer spielen, wo es doch viel
bequemer und gemütlicher ist?« »O bitte«, rief der Vater, als sei er
der Violinspieler. Die Herren traten ins Zimmer zurück und warteten.
Bald kam der Vater mit dem Notenpult, die Mutter mit den Noten und die
Schwester mit der Violine. Die Schwester bereitete alles ruhig zum Spiele
vor; die Eltern, die niemals früher Zimmer vermietet hatten und deshalb
die Höflichkeit gegen die Zimmerherren übertrieben, wagten gar nicht,
sich auf ihre eigenen Sessel zu setzen; der Vater lehnte an der Tür,
die rechte Hand zwischen zwei Knöpfe des geschlossenen Livreerockes
gesteckt; die Mutter aber erhielt von einem Herrn einen Sessel angeboten
und saß, da sie den Sessel dort ließ, wohin ihn der Herr zufällig gestellt
hatte, abseits in einem Winkel. Die Schwester begann zu spielen; Vater
und Mutter verfolgten, jeder von seiner Seite, aufmerksam die Bewegungen
ihrer Hände. Gregor hatte, von dem Spiele angezogen, sich ein wenig
weiter vorgewagt und war schon mit dem Kopf im Wohnzimmer. Er wunderte
sich kaum darüber, daß er in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die
andern nahm; früher war diese Rücksichtnahme sein Stolz gewesen. Und
dabei hätte er gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn
infolge des Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten
Bewegung umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste
schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum; seine
Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als daß er sich, wie
früher mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Teppich
gescheuert hätte. Und trotz dieses Zustandes hatte er keine Scheu, ein
Stück auf dem makellosen Fußboden des Wohnzimmers vorzurücken. Allerdings
achtete auch niemand auf ihn. Die Familie war gänzlich vom Violinspiel
in Anspruch genommen; die Zimmerherren dagegen, die zunächst, die Hände
in den Hosentaschen, viel zu nahe hinter dem Notenpult der Schwester
sich aufgestellt hatten, so daß sie alle in die Noten hätten sehen können,
was sicher die Schwester stören mußte, zogen sich bald unter halblauten
Gesprächen mit gesenkten Köpfen zum Fenster zurück, wo sie, vom Vater
besorgt beobachtet, auch blieben. Es hatte nun wirklich den überdeutlichen
Anschein, als wären sie in ihrer Annahme, ein schönes oder unterhaltendes
Violinspiel zu hören, enttäuscht, hätten die ganze Vorführung satt und
ließen sich nur aus Höflichkeit noch in ihrer Ruhe stören. Besonders
die Art, wie sie alle aus Nase und Mund den Rauch ihrer Zigarren in
die Höhe bliesen, ließ auf große Nervosität schließen. Und doch spielte
die Schwester so schön. Ihr Gesicht war zur Seite geneigt, prüfend und
traurig folgten ihre Blicke den Notenzeilen. Gregor kroch noch ein Stück
vorwärts und hielt den Kopf eng an den Boden, um möglicherweise ihren
Blicken begegnen zu können. War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff?
Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.
Er war entschlossen, bis zur Schwester vorzudringen, sie am Rock zu
zupfen und ihr dadurch anzudeuten, sie möge doch mit ihrer Violine in
sein Zimmer kommen, denn niemand lohnte hier das Spiel so, wie er es
lohnen wollte. Er wollte sie nicht mehr aus seinem Zimmer lassen, wenigstens
nicht, solange er lebte; seine Schreckgestalt sollte ihm zum erstenmal
nützlich werden; an allen Türen seines Zimmers wollte er gleichzeitig
sein und den Angreifern entgegenfauchen; die Schwester aber sollte nicht
gezwungen, sondern freiwillig bei ihm bleiben; sie sollte neben ihm
auf dem Kanapee sitzen, das Ohr zu ihm herunterneigen, und er wollte
ihr dann anvertrauen, daß er die feste Absicht gehabt habe, sie auf
das Konservatorium zu schicken, und daß er dies, wenn nicht das Unglück
dazwischen gekommen wäre, vergangene Weihnachten Weihnachten
war doch wohl schon vorüber? allen gesagt hätte, ohne sich um
irgendwelche Widerreden zu kümmern. Nach dieser Erklärung würde die
Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor würde sich bis
zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie
ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.
»Herr Samsa!« rief der mittlere Herr dem Vater zu und zeigte, ohne
ein weiteres Wort zu verlieren, mit dem Zeigefinger auf den langsam
sich vorwärtsbewegenden Gregor. Die Violine verstummte, der mittlere
Zimmerherr lächelte erst einmal kopfschüttelnd seinen Freunden zu und
sah dann wieder auf Gregor hin. Der Vater schien es für nötiger zu halten,
statt Gregor zu vertreiben, vorerst die Zimmerherren zu beruhigen, trotzdem
diese gar nicht aufgeregt waren und Gregor sie mehr als das Violinspiel
zu unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie mit ausgebreiteten
Armen in ihr Zimmer zu drängen und gleichzeitig mit seinem Körper ihnen
den Ausblick auf Gregor zu nehmen. Sie wurden nun tatsächlich ein wenig
böse, man wußte nicht mehr, ob über das Benehmen des Vaters oder über
die ihnen jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu wissen, einen solchen
Zimmernachbar wie Gregor besessen zu haben. Sie verlangten vom Vater
Erklärungen, hoben ihrerseits die Arme, zupften unruhig an ihren Bärten
und wichen nur langsam gegen ihr Zimmer zurück. Inzwischen hatte die
Schwester die Verlorenheit, in die sie nach dem plötzlich abgebrochenen
Spiel verfallen war, überwunden, hatte sich, nachdem sie eine Zeitlang
in den lässig hängenden Händen Violine und Bogen gehalten und weiter,
als spiele sie noch, in die Noten gesehen hatte, mit einem Male aufgerafft,
hatte das Instrument auf den Schoß der Mutter gelegt, die in Atembeschwerden
mit heftig arbeitenden Lungen noch auf ihrem Sessel saß, und war in
das Nebenzimmer gelaufen, dem sich die Zimmerherren unter dem Drängen
des Vaters schon schneller näherten. Man sah, wie unter den geübten
Händen der Schwester die Decken und Polster in den Betten in die Höhe
flogen und sich ordneten. Noch ehe die Herren das Zimmer erreicht hatten,
war sie mit dem Aufbetten fertig und schlüpfte heraus. Der Vater schien
wieder von seinem Eigensinn derartig ergriffen, daß er jeden Respekt
vergaß, den er seinen Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und
drängte, bis schon in der Tür des Zimmers der mittlere der Herren donnernd
mit dem Fuß aufstampfte und dadurch den Vater zum Stehen brachte. »Ich
erkläre hiermit«, sagte er, hob die Hand und suchte mit den Blicken
auch die Mutter und die Schwester, »daß ich mit Rücksicht auf die in
dieser Wohnung und Familie herrschenden widerlichen Verhältnisse«
hierbei spie er kurz entschlossen auf den Boden »mein Zimmer
augenblicklich kündige. Ich werde natürlich auch für die Tage, die ich
hier gewohnt habe, nicht das geringste bezahlen, dagegen werde ich es
mir noch überlegen, ob ich nicht mit irgendwelchen glauben Sie
mir sehr leicht zu begründenden Forderungen gegen Sie auftreten
werde.« Er schwieg und sah gerade vor sich hin, als erwarte er etwas.
Tatsächlich fielen sofort seine zwei Freunde mit den Worten ein: »Auch
wir kündigen augenblicklich.« Darauf faßte er die Türklinke und schloß
mit einem Krach die Tür. Das Vater wankte mit tastenden Händen zu seinem
Sessel und ließ sich in ihn fallen; es sah aus, als strecke er sich
zu seinem gewöhnlichen Abendschläfchen, aber das starke Nicken seines
wie haltlosen Kopfes zeigte, daß er ganz und gar nicht schlief. Gregor
war die ganze Zeit still auf dem Platz gelegen, auf dem ihn die Zimmerherren
ertappt hatten. Die Enttäuschung über das Mißlingen seines Planes, vielleicht
aber auch die durch das viele Hungern verursachte Schwäche machten es
ihm unmöglich, sich zu bewegen. Er fürchtete mit einer gewissen Bestimmtheit
schon für den nächsten Augenblick einen allgemeinen über ihn sich entladenden
Zusammensturz und wartete. Nicht einmal die Violine schreckte ihn auf,
die, unter den zitternden Fingern der Mutter hervor, ihr vom Schoße
fiel und einen hallenden Ton von sich gab. »Liebe Eltern«, sagte die
Schwester und schlug zur Einleitung mit der Hand auf den Tisch, »so
geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einsehet, ich sehe
es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen,
und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir haben
das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube,
es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.« »Sie hat tausendmal
recht«, sagte der Vater für sich. Die Mutter, die noch immer nicht genug
Atem finden konnte, fing in die vorgehaltene Hand mit einem irrsinnigen
Ausdruck der Augen dumpf zu husten an. Die Schwester eilte zur Mutter
und hielt ihr die Stirn. Der Vater schien durch die Worte der Schwester
auf bestimmtere Gedanken gebracht zu sein, hatte sich aufrecht gesetzt,
spielte mit seiner Dienermütze zwischen den Tellern, die noch vom Nachtmahl
der Zimmerherren her auf dem Tische lagen, und sah bisweilen auf den
stillen Gregor hin. »Wir müssen es loszuwerden versuchen«, sagte die
Schwester nun ausschließlich zum Vater, denn die Mutter hörte in ihrem
Husten nichts, »es bringt euch noch beide um, ich sehe es kommen. Wenn
man schon so schwer arbeiten muß, wie wir alle, kann man nicht noch
zu Hause diese ewige Quälerei ertragen. Ich kann es auch nicht mehr.«
Und sie brach so heftig in Weinen aus, daß ihre Tränen auf das Gesicht
der Mutter niederflossen, von dem sie sie mit mechanischen Handbewegungen
wischte. »Kind«, sagte der Vater mitleidig und mit auffallendem Verständnis,
»was sollen wir aber tun?«
Die
Schwester zuckte nur die Achseln zum Zeichen der Ratlosigkeit, die sie
nun während des Weinens im Gegensatz zu ihrer früheren Sicherheit ergriffen
hatte. »Wenn er uns verstünde«, sagte der Vater halb fragend; die Schwester
schüttelte aus dem Weinen heraus heftig die Hand zum Zeichen, daß daran
nicht zu denken sei. »Wenn er uns verstünde«, wiederholte der Vater
und nahm durch Schließen der Augen die Überzeugung der Schwester von
der Unmöglichkeit dessen in sich auf, »dann wäre vielleicht ein Übereinkommen
mit ihm möglich. Aber so « »Weg muß es«, rief die Schwester, »das
ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden
suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es solange geglaubt haben, ist ja
unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn
es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von
Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig
fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben
und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier,
vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen
und uns auf der Gasse übernachten lassen. Sieh nur, Vater«, schrie sie
plötzlich auf, »er fängt schon wieder an!« Und in einem für Gregor gänzlich
unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter, stieß
sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter
opfern, als in Gregors Nähe bleiben, und eilte hinter den Vater, der,
lediglich durch ihr Benehmen erregt, auch aufstand und die Arme wie
zum Schutze der Schwester vor ihr halb erhob. Aber Gregor fiel es doch
gar nicht ein, irgend jemandem und gar seiner Schwester Angst machen
zu wollen. Er hatte bloß angefangen, sich umzudrehen, um in sein Zimmer
zurückzuwandern, und das nahm sich allerdings auffallend aus, da er
infolge seines leidenden Zustandes bei den schwierigen Umdrehungen mit
seinem Kopfe nachhelfen mußte, den er hierbei viele Male hob und gegen
den Boden schlug. Er hielt inne und sah sich um. Seine gute Absicht
schien erkannt worden zu sein; es war nur ein augenblicklicher Schrecken
gewesen. Nun sahen ihn alle schweigend und traurig an. Die Mutter lag,
die Beine ausgestreckt und aneinandergedrückt, in ihrem Sessel, die
Augen fielen ihr vor Ermattung fast zu; der Vater und die Schwester
saßen nebeneinander, die Schwester hatte ihre Hand um des Vaters Hals
gelegt. »Nun darf ich mich schon vielleicht umdrehen«, dachte Gregor
und begann seine Arbeit wieder. Er konnte das Schnaufen der Anstrengung
nicht unterdrücken und mußte auch hie und da ausruhen. Im übrigen drängte
ihn auch niemand, es war alles ihm selbst überlassen. Als er die Umdrehung
vollendet hatte, fing er sofort an, geradeaus zurückzuwandern. Er staunte
über die große Entfernung, die ihn von seinem Zimmer trennte, und begriff
gar nicht, wie er bei seiner Schwäche vor kurzer Zeit den gleichen Weg,
fast ohne es zu merken, zurückgelegt hatte. Immerfort nur auf rasches
Kriechen bedacht, achtete er kaum darauf, daß kein Wort, kein Ausruf
seiner Familie ihn störte. Erst als er schon in der Tür war, wendete
er den Kopf, nicht vollständig, denn er fühlte den Hals steif werden,
immerhin sah er noch, daß sich hinter ihm nichts verändert hatte, nur
die Schwester war aufgestanden. Sein letzter Blick streifte die Mutter,
die nun völlig eingeschlafen war. Kaum war er innerhalb seines Zimmers,
wurde die Tür eiligst zugedrückt, festgeriegelt und versperrt. Über
den plötzlichen Lärm hinter sich erschrak Gregor so, daß ihm die Beinchen
einknickten. Es war die Schwester, die sich so beeilt hatte. Aufrecht
war sie schon da gestanden und hatte gewartet, leichtfüßig war sie dann
vorwärtsgesprungen, Gregor hatte sie gar nicht kommen hören, und ein
»Endlich!« rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im Schloß
umdrehte. »Und jetzt?« fragte sich Gregor und sah sich im Dunkeln um.
Er machte bald die Entdeckung, daß er sich nun überhaupt nicht mehr
rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich
vor, daß er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte
fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich.
Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie
allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen.
Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die
ganz von weichem Staub bedeckt waren, spürte er schon kaum. An seine
Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber,
daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die
seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens
blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang
des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch.
Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen
Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor. Als am frühen Morgen
die Bedienerin kam vor lauter Kraft und Eile schlug sie, wie
oft man sie auch schon gebeten hatte, das zu vermeiden, alle Türen derartig
zu, daß in der ganzen Wohnung von ihrem Kommen an kein ruhiger Schlaf
mehr möglich war , fand sie bei ihrem gewöhnlichen kurzen Besuch
an Gregor zuerst nichts Besonderes. Sie dachte, er liege absichtlich
so unbeweglich da und spiele den Beleidigten; sie traute ihm allen möglichen
Verstand zu. Weil sie zufällig den langen Besen in der Hand hielt, suchte
sie mit ihm Gregor von der Tür aus zu kitzeln. Als sich auch da kein
Erfolg zeigte, wurde sie ärgerlich und stieß ein wenig in Gregor hinein,
und erst als sie ihn ohne jeden Widerstand von seinem Platze geschoben
hatte, wurde sie aufmerksam. Als sie bald den wahren Sachverhalt erkannte,
machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange
auf, sondern riß die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme
in das Dunkel hinein: »Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt
es, ganz und gar krepiert!« Das Ehepaar Samsa saß im Ehebett aufrecht
da und hatte zu tun, den Schrecken über die Bedienerin zu verwinden,
ehe es dazu kam, ihre Meldung aufzufassen. Dann aber stiegen Herr und
Frau Samsa, jeder auf seiner Seite, eiligst aus dem Bett, Herr Samsa
warf die Decke über seine Schultern, Frau Samsa kam nur im Nachthemd
hervor; so traten sie in Gregors Zimmer. Inzwischen hatte sich auch
die Tür des Wohnzimmers geöffnet, in dem Grete seit dem Einzug der Zimmerherren
schlief; sie war völlig angezogen, als hätte sie gar nicht geschlafen,
auch ihr bleiches Gesicht schien das zu beweisen. »Tot?« sagte Frau
Samsa und sah fragend zur Bedienerin auf, trotzdem sie doch alles selbst
prüfen und sogar ohne Prüfung erkennen konnte. »Das will ich meinen«,
sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen
noch ein großes Stück seitwärts. Frau
Samsa machte eine Bewegung, als wolle sie den Besen zurückhalten, tat
es aber nicht. »Nun«, sagte Herr Samsa, »jetzt können wir Gott danken.«
Er bekreuzte sich, und die drei Frauen folgten seinem Beispiel. Grete,
die kein Auge von der Leiche wendete, sagte: »Seht nur, wie mager er
war. Er hat ja auch schon so lange Zeit nichts gegessen. So wie die
Speisen hereinkamen, sind sie wieder hinausgekommen.« Tatsächlich war
Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das eigentlich
erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch sonst
nichts den Blick ablenkte. »Komm, Grete, auf ein Weilchen zu uns herein«,
sagte Frau Samsa mit einem wehmütigen Lächeln, und Grete ging, nicht
ohne nach der Leiche zurückzusehen, hinter den Eltern in das Schlafzimmer.
Die Bedienerin schloß die Tür und öffnete gänzlich das Fenster. Trotz
des frühen Morgens war der frischen Luft schon etwas Lauigkeit beigemischt.
Es war eben schon Ende März. Aus
ihrem Zimmer traten die drei Zimmerherren und sahen sich erstaunt nach
ihrem Frühstück um; man hatte sie vergessen. »Wo ist das Frühstück?«
fragte der mittlere der Herren mürrisch die Bedienerin. Diese aber legte
den Finger an den Mund und winkte dann hastig und schweigend den Herren
zu, sie möchten in Gregors Zimmer kommen. Sie kamen auch und standen
dann, die Hände in den Taschen ihrer etwas abgenützten Röckchen, in
dem nun schon ganz hellen Zimmer um Gregors Leiche herum. Da öffnete
sich die Tür des Schlafzimmers, und Herr Samsa erschien in seiner Livree,
an einem Arm seine Frau, am anderen seine Tochter. Alle waren ein wenig
verweint; Grete drückte bisweilen ihr Gesicht an den Arm des Vaters.
»Verlassen Sie sofort meine Wohnung!« sagte Herr Samsa und zeigte auf
die Tür, ohne die Frauen von sich zu lassen. »Wie meinen Sie das?« sagte
der mittlere der Herren etwas bestürzt und lächelte süßlich. Die zwei
anderen hielten die Hände auf dem Rücken und rieben sie ununterbrochen
aneinander, wie in freudiger Erwartung eines großen Streites, der aber
für sie günstig ausfallen mußte. »Ich meine es genau so, wie ich es
sage«, antwortete Herr Samsa und ging in einer Linie mit seinen zwei
Begleiterinnen auf den Zimmerherrn zu. Dieser stand zuerst still da
und sah zu Boden, als ob sich die Dinge in seinem Kopf zu einer neuen
Ordnung zusammenstellten. »Dann gehen wir also«, sagte er dann und sah
zu Herrn Samsa auf, als verlange er in einer plötzlich ihn überkommenden
Demut sogar für diesen Entschluß eine neue Genehmigung. Herr Samsa nickte
ihm bloß mehrmals kurz mit großen Augen zu. Daraufhin ging der Herr
tatsächlich sofort mit langen Schritten ins Vorzimmer; seine beiden
Freunde hatten schon ein Weilchen lang mit ganz ruhigen Händen aufgehorcht
und hüpften ihm jetzt geradezu nach, wie in Angst, Herr Samsa könnte
vor ihnen ins Vorzimmer eintreten und die Verbindung mit ihrem Führer
stören. Im Vorzimmer nahmen alle drei die Hüte vom Kleiderrechen, zogen
ihre Stöcke aus dem Stockbehälter, verbeugten sich stumm und verließen
die Wohnung. In einem, wie sich zeigte, gänzlich unbegründeten Mißtrauen
trat Herr Samsa mit den zwei Frauen auf den Vorplatz hinaus; an das
Geländer gelehnt, sahen sie zu, wie die drei Herren zwar langsam, aber
ständig die lange Treppe hinunterstiegen, in jedem Stockwerk in einer
bestimmten Biegung des Treppenhauses verschwanden und nach ein paar
Augenblicken wieder hervorkamen; je tiefer sie gelangten, desto mehr
verlor sich das Interesse der Familie Samsa für sie, und als ihnen entgegen
und dann hoch über sie hinweg ein Fleischergeselle mit der Trage auf
dem Kopf in stolzer Haltung heraufstieg, verließ bald Herr Samsa mit
den Frauen das Geländer, und alle kehrten, wie erleichtert, in ihre
Wohnung zurück. Sie beschlossen, den heutigen Tag zum Ausruhen und Spazierengehen
zu verwenden; sie hatten diese Arbeitsunterbrechung nicht nur verdient,
sie brauchten sie sogar unbedingt. Und so setzten sie sich zum Tisch
und schrieben drei Entschuldigungsbriefe, Herr Samsa an seine Direktion,
Frau Samsa an ihren Auftraggeber und Grete an ihren Prinzipal. Während
des Schreibens kam die Bedienerin herein, um zu sagen, daß sie fortgehe,
denn ihre Morgenarbeit war beendet. Die drei Schreibenden nickten zuerst
bloß, ohne aufzuschauen, erst als die Bedienerin sich immer noch nicht
entfernen wollte, sah man ärgerlich auf. »Nun?« fragte Herr Samsa. Die
Bedienerin stand lächelnd in der Tür, als habe sie der Familie ein großes
Glück zu melden, werde es aber nur dann tun, wenn sie gründlich ausgefragt
werde. Die fast aufrechte kleine Straußfeder auf ihrem Hut, über die
sich Herr Samsa schon während ihrer ganzen Dienstzeit ärgerte, schwankte
leicht nach allen Richtungen. »Also was wollen Sie eigentlich?« fragte
Frau Samsa, vor welcher die Bedienerin noch am meisten Respekt hatte.
»Ja«, antwortete die Bedienerin und konnte vor freundlichem Lachen nicht
gleich weiterreden, »also darüber, wie das Zeug von nebenan weggeschafft
werden soll, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Es ist schon in Ordnung.«
Frau Samsa und Grete beugten sich zu ihren Briefen nieder, als wollten
sie weiterschreiben; Herr Samsa, welcher merkte, daß die Bedienerin
nun alles ausführlich zu beschreiben anfangen wollte, wehrte dies mit
ausgestreckter Hand entschieden ab. Da sie aber nicht erzählen durfte,
erinnerte sie sich an die große Eile, die sie hatte, rief offenbar beleidigt:
»Adjes allseits«, drehte sich wild um und verließ unter fürchterlichem
Türezuschlagen die Wohnung. »Abends wird sie entlassen«, sagte Herr
Samsa, bekam aber weder von seiner Frau noch von seiner Tochter eine
Antwort, denn die Bedienerin schien ihre kaum gewonnene Ruhe wieder
gestört zu haben. Sie erhoben sich, gingen zum Fenster und blieben dort,
sich umschlungen haltend. Herr Samsa drehte sich in seinem Sessel nach
ihnen um und beobachtete sie still ein Weilchen.
Dann rief er: »Also kommt doch her. Laßt schon endlich die alten Sachen.
Und nehmt auch ein wenig Rücksicht auf mich.« Gleich folgten ihm die
Frauen, eilten zu ihm, liebkosten ihn und beendeten rasch ihre Briefe.
Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon
seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins
Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von
warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen
zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß
diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller
drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht
ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend.
Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht
durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und
billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen,
als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während sie sich
so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer
lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten
Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem
schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast
unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es
nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es
war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten,
als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren
jungen Körper dehnte.
Een
bookwerk met 60 pagina's met reproducties van vele van deze potloodtekeningen
is uitgegeven door Porte Folio
in 1992
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METAMORPHOSEN © Martin Linnartz,
St. Agnesstraat
4, 6241 CB Bunde, The Netherlands.
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No
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