Kafka: "Die Verwandlung"
METAMORPHOSEN:
Bildnerische Betrachtungen zu Kafkas "Die Verwandlung"
Potloodtekeningen van Martin
Linnartz,geinspireerd door Kafka's Metamorphosis
II
rst
in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren ohnmachtsähnlichen
Schlaf. Er wäre gewiß nicht viel später auch ohne Störung erwacht, denn
er fühlte sich genügend ausgeruht und ausgeschlafen, doch schien es
ihm, als hätte ihn ein flüchtiger Schritt und ein vorsichtiges Schließen
der zum Vorzimmer führenden Tür geweckt. Der Schein der elektrischen
Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und auf den
höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor war es finster. Langsam
schob er sich, noch ungeschickt mit seinen Fühlern tastend, die er erst
jetzt schätzen lernte, zur Türe hin, um nachzusehen, was dort geschehen
war. Seine linke Seite schien eine einzige lange, unangenehm spannende
Narbe, und er mußte auf seinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. Ein
Beinchen war übrigens im Laufe der vormittägigen Vorfälle schwer verletzt
worden es war fast ein Wunder, daß nur eines verletzt worden
war und schleppte leblos nach. Erst bei der Tür merkte er, was
ihn dorthin eigentlich gelockt hatte; es war der Geruch von etwas Eßbarem
gewesen. Denn dort stand ein Napf mit süßer Milch gefüllt, in der kleine
Schnitten von Weißbrot schwammen. Fast hätte er vor Freude gelacht,
denn er hatte noch größeren Hunger als am Morgen, und gleich tauchte
er seinen Kopf fast bis über die Augen in die Milch hinein. Aber bald
zog er ihn enttäuscht wieder zurück; nicht nur, daß ihm das Essen wegen
seiner heiklen linken Seite Schwierigkeiten machte und er konnte
nur essen, wenn der ganze Körper schnaufend mitarbeitete , so
schmeckte ihm überdies die Milch, die sonst sein Lieblingsgetränk war,
und die ihm gewiß die Schwester deshalb hereingestellt hatte, gar nicht,
ja er wandte sich fast mit Widerwillen von dem Napf ab und kroch in
die Zimmermitte zurück. Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte
sah, das Gas angezündet, aber während sonst zu dieser Tageszeit der
Vater seine nachmittags erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal
auch der Schwester mit erhobener Stimme vorzulesen pflegte, hörte man
jetzt keinen Laut. Nun, vielleicht war dieses Vorlesen, von dem ihm
die Schwester immer erzählte und schrieb, in der letzten Zeit überhaupt
aus der Übung gekommen. Aber auch ringsherum war es so still, trotzdem
doch gewiß die Wohnung nicht leer war. »Was für ein stilles Leben die
Familie doch führte«, sagte sich Gregor und fühlte, während er starr
vor sich ins Dunkle sah, einen großen Stolz darüber, daß er seinen Eltern
und seiner Schwester ein solches Leben in einer so schönen Wohnung hatte
verschaffen können. Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand,
alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollten? Um sich nicht
in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor lieber in Bewegung
und kroch im Zimmer auf und ab. Einmal während des langen Abends wurde
die eine Seitentür und einmal die andere bis zu einer kleinen Spalte
geöffnet und rasch wieder geschlossen; jemand hatte wohl das Bedürfnis
hereinzukommen, aber auch wieder zu viele Bedenken. Gregor machte nun
unmittelbar bei der Wohnzimmertür halt, entschlossen, den zögernden
Besucher doch irgendwie hereinzubringen oder doch wenigstens zu erfahren,
wer es sei; aber nun wurde die Tür nicht mehr geöffnet und Gregor wartete
vergebens. Früh, als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen
wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar
während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die Schlüssel
steckten nun auch von außen. Spät erst in der Nacht wurde das Licht
im Wohnzimmer ausgelöscht, und nun war leicht festzustellen, daß die
Eltern und die Schwester so lange wachgeblieben waren, denn wie man
genau hören konnte, entfernten sich jetzt alle drei auf den Fußspitzen.
Nun kam gewiß bis zum Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte
also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen, wie er sein Leben jetzt
neu ordnen sollte. Aber das hohe freie Zimmer, in dem er gezwungen war,
flach auf dem Boden zu liegen, ängstigte ihn, ohne daß er die Ursache
herausfinden konnte, denn es war ja sein seit fünf Jahren von ihm bewohntes
Zimmer und mit einer halb unbewußten Wendung und nicht ohne eine
leichte Scham eilte er unter das Kanapee, wo er sich, trotzdem sein
Rücken ein wenig gedrückt wurde und trotzdem er den Kopf nicht mehr
erheben konnte, gleich sehr behaglich fühlte und nur bedauerte, daß
sein Körper zu breit war, um vollständig unter dem Kanapee untergebracht
zu werden.
Dort blieb er die ganze Nacht, die er zum Teil im Halbschlaf, aus dem
ihn der Hunger immer wieder aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber
in Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse
führten, daß er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und
größte Rücksichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich
machen müsse, die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal
zu verursachen gezwungen war. Schon
am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte Gregor Gelegenheit,
die Kraft seiner eben gefaßten Entschlüsse zu prüfen, denn vom Vorzimmer
her öffnete die Schwester, fast völlig angezogen, die Tür und sah mit
Spannung herein. Sie fand ihn nicht gleich, aber als sie ihn unter dem
Kanapee bemerkte Gott, er mußte doch irgendwo sein, er hatte
doch nicht wegfliegen können , erschrak sie so sehr, daß sie,
ohne sich beherrschen zu können, die Tür von außen wieder zuschlug.
Aber als bereue sie ihr Benehmen, öffnete sie die Tür sofort wieder
und trat, als sei sie bei einem Schwerkranken oder gar bei einem Fremden,
auf den Fußspitzen herein. Gregor hatte den Kopf bis knapp zum Rande
des Kanapees vorgeschoben und beobachtete sie. Ob sie wohl bemerken
würde, daß er die Milch stehengelassen hatte, und zwar keineswegs aus
Mangel an Hunger, und ob sie eine andere Speise hereinbringen würde,
die ihm besser entsprach? Täte sie es nicht von selbst, er wollte lieber
verhungern, als sie darauf aufmerksam machen, trotzdem es ihn eigentlich
ungeheuer drängte, unterm Kanapee vorzuschießen, sich der Schwester
zu Füßen zu werfen und sie um irgend etwas Gutes zum Essen zu bitten.
Aber die Schwester bemerkte sofort mit Verwunderung den noch vollen
Napf, aus dem nur ein wenig Milch ringsherum verschüttet war, sie hob
ihn gleich auf, zwar nicht mit den bloßen Händen, sondern mit einem
Fetzen, und trug ihn hinaus. Gregor war äußerst neugierig, was sie zum
Ersatze bringen würde, und er machte sich die verschiedensten Gedanken
darüber. Niemals aber hätte er erraten können, was die Schwester in
ihrer Güte wirklich tat. Sie brachte ihm, um seinen Geschmack zu prüfen,
eine ganze Auswahl, alles auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Da war
altes halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl her, die von festgewordener
weißer Soße umgeben waren; ein paar Rosinen und Mandeln; ein Käse, den
Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte; ein trockenes Brot,
ein mit Butter beschmiertes Brot und ein mit Butter beschmiertes und
gesalzenes Brot. Außerdem stellte sie zu dem allen noch den wahrscheinlich
ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in den sie Wasser gegossen
hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wußte, daß Gregor vor ihr nicht essen
würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um,
damit nur Gregor merken könne, daß er es sich so behaglich machen dürfe,
wie er wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt zum Essen ging.
Seine Wunden mußten übrigens auch schon vollständig geheilt sein, er
fühlte keine Behinderung mehr, er staunte darüber und dachte daran,
wie er vor mehr als einem Monat sich mit dem Messer ganz wenig in den
Finger geschnitten, und wie ihm diese Wunde noch vorgestern genug weh
getan hatte. »Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?« dachte er
und saugte schon gierig an dem Käse, zu dem es ihn vor allen anderen
Speisen sofort und nachdrücklich gezogen hatte. Rasch hintereinander
und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte er den Käse, das
Gemüse und die Soße; die frischen Speisen dagegen schmeckten ihm nicht,
er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und schleppte sogar die
Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg. Er war schon
längst mit allem fertig und lag nur noch faul auf der gleichen Stelle,
als die Schwester zum Zeichen, daß er sich zurückziehen solle, langsam
den Schlüssel umdrehte. Das schreckte ihn sofort auf, trotzdem er schon
fast schlummerte, und er eilte wieder unter das Kanapee. Aber es kostete
ihn große Selbstüberwindung, auch nur die kurze Zeit, während welcher
die Schwester im Zimmer war, unter dem Kanapee zu bleiben, denn von
dem reichlichen Essen hatte sich sein Leib ein wenig gerundet und er
konnte dort in der Enge kaum atmen. Unter kleinen Erstickungsanfällen
sah er mit etwas hervorgequollenen Augen zu, wie die nichtsahnende Schwester
mit einem Besen nicht nur die Überbleibsel zusammenkehrte, sondern selbst
die von Gregor gar nicht berührten Speisen, als seien also auch diese
nicht mehr zu gebrauchen, und wie sie alles hastig in einen Kübel schüttete,
den sie mit einem Holzdeckel schloß, worauf sie alles hinaustrug. Kaum
hatte sie sich umgedreht, zog sich schon Gregor unter dem Kanapee hervor
und streckte und blähte sich. Auf diese Weise bekam nun Gregor täglich
sein Essen, einmal am Morgen, wenn die Eltern und das Dienstmädchen
noch schliefen, das zweitemal nach dem allgemeinen Mittagessen, denn
dann schliefen die Eltern gleichfalls noch ein Weilchen, und das Dienstmädchen
wurde von der Schwester mit irgendeiner Besorgung weggeschickt. Gewiß
wollten auch sie nicht, daß Gregor verhungere, aber vielleicht hätten
sie es nicht ertragen können, von seinem Essen mehr als durch Hörensagen
zu erfahren, vielleicht wollte die Schwester ihnen auch eine möglicherweise
nur kleine Trauer ersparen, denn tatsächlich litten sie ja gerade genug.
Mit welchen Ausreden man an jenem ersten Vormittag den Arzt und den
Schlosser wieder aus der Wohnung geschafft hatte, konnte Gregor gar
nicht erfahren, denn da er nicht verstanden wurde, dachte niemand daran,
auch die Schwester nicht, daß er die anderen verstehen könne, und so
mußte er sich, wenn die Schwester in seinem Zimmer war, damit begnügen,
nur hier und da ihre Seufzer und Anrufe der Heiligen zu hören. Erst
später, als sie sich ein wenig an alles gewöhnt hatte von vollständiger
Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede sein , erhaschte Gregor
manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war oder so gedeutet
werden konnte. »Heute hat es ihm aber geschmeckt«, sagte sie, wenn Gregor
unter dem Essen tüchtig aufgeräumt hatte, während sie im gegenteiligen
Fall, der sich allmählich immer häufiger wiederholte, fast traurig zu
sagen pflegte: »Nun ist wieder alles stehen geblieben.« Während aber
Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte, erhorchte er manches
aus den Nebenzimmern, und wo er nur einmal Stimmen hörte, lief er gleich
zu der betreffenden Tür und drückte sich mit ganzem Leib an sie. Besonders
in der ersten Zeit gab es kein Gespräch, das nicht irgendwie, wenn auch
nur im geheimen, von ihm handelte. Zwei Tage lang waren bei allen Mahlzeiten
Beratungen darüber zu hören, wie man sich jetzt verhalten solle; aber
auch zwischen den Mahlzeiten sprach man über das gleiche Thema, denn
immer waren zumindest zwei Familienmitglieder zu Hause, da wohl niemand
allein zu Hause bleiben wollte und man die Wohnung doch auf keinen Fall
gänzlich verlassen konnte. Auch hatte das Dienstmädchen gleich am ersten
Tag es war nicht ganz klar, was und wieviel sie von dem Vorgefallenen
wußte kniefällig die Mutter gebeten, sie sofort zu entlassen,
und als sie sich eine Viertelstunde danach verabschiedete, dankte sie
für die Entlassung unter Tränen, wie für die größte Wohltat, die man
ihr erwiesen hatte, und gab, ohne daß man es von ihr verlangte, einen
fürchterlichen Schwur ab, niemandem auch nur das Geringste zu verraten.
Nun mußte die Schwester im Verein mit der Mutter auch kochen; allerdings
machte das nicht viel Mühe, denn man aß fast nichts. Immer wieder hörte
Gregor, wie der eine den anderen vergebens zum Essen aufforderte und
keine andere Antwort bekam, als: »Danke, ich habe genug« oder etwas
Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch nichts. Öfters fragte die
Schwester den Vater, ob er Bier haben wolle, und herzlich erbot sie
sich, es selbst zu holen, und als der Vater schwieg, sagte sie, um ihm
jedes Bedenken zu nehmen, sie könne auch die Hausmeisterin darum schicken,
aber dann sagte der Vater schließlich ein großes »Nein«, und es wurde
nicht mehr davon gesprochen. Schon
im Laufe des ersten Tages legte der Vater die ganzen Vermögensverhältnisse
und Aussichten sowohl der Mutter, als auch der Schwester dar. Hie und
da stand er vom Tische auf und holte aus seiner kleinen Wertheimkassa,
die er aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes
gerettet hatte, irgendeinen Beleg oder irgendein Vormerkbuch. Man hörte,
wie er das komplizierte Schloß aufsperrte und nach Entnahme des Gesuchten
wieder verschloß. Diese Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste
Erfreuliche, was Gregor seit seiner Gefangenschaft zu hören bekam. Er
war der Meinung gewesen, daß dem Vater von jenem Geschäft her nicht
das Geringste übriggeblieben war, zumindest hatte ihm der Vater nichts
Gegenteiliges gesagt, und Gregor allerdings hatte ihn auch nicht darum
gefragt. Gregors Sorge war damals nur gewesen, alles daranzusetzen,
um die Familie das geschäftliche Unglück, das alle in eine vollständige
Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst rasch vergessen zu lassen.
Und so hatte er damals mit ganz besonderem Feuer zu arbeiten angefangen
und war fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden,
der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und
dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelten,
das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt
werden konnte. Es waren schöne Zeiten gewesen, und niemals nachher hatten
sie sich, wenigstens in diesem Glanze, wiederholt, trotzdem Gregor später
so viel Geld verdiente, daß er den Aufwand der ganzen Familie zu tragen
imstande war und auch trug. Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl
die Familie als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte
es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben.
Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein
geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte
und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht
auf die großen Kosten, die das verursachen mußte, und die man schon
auf andere Weise hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken.
Öfters während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt wurde in
den Gesprächen mit der Schwester das Konservatorium erwähnt, aber immer
nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken war,
und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern;
aber Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend
feierlich zu erklären. Solche in seinem gegenwärtigen Zustand ganz nutzlose
Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er dort aufrecht an der
Türe klebte und horchte. Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit
gar nicht mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür schlagen,
hielt ihn aber sofort wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch,
das er damit verursacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle
verstummen lassen. »Was er nur wieder treibt«, sagte der Vater nach
einer Weile, offenbar zur Türe hingewendet, und dann erst wurde das
unterbrochene Gespräch allmählich wieder aufgenommen. Gregor erfuhr
nun zur Genüge denn der Vater pflegte sich in seinen Erklärungen
öfters zu wiederholen, teils, weil er selbst sich mit diesen Dingen
schon lange nicht beschäftigt hatte, teils auch, weil die Mutter nicht
alles gleich beim erstenmal verstand , daß trotz allen Unglücks
ein allerdings ganz kleines Vermögen aus der alten Zeit noch vorhanden
war, das die nicht angerührten Zinsen in der Zwischenzeit ein wenig
hatten anwachsen lassen. Außerdem aber war das Geld, das Gregor allmonatlich
nach Hause gebracht hatte er selbst hatte nur ein paar Gulden
für sich behalten , nicht vollständig aufgebraucht worden und
hatte sich zu einem kleinen Kapital angesammelt. Gregor, hinter seiner
Türe, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und Sparsamkeit.
Eigentlich hätte er ja mit diesen überschüssigen Geldern die Schuld
des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen haben können, und jener
Tag, an dem er diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit näher
gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet
hatte. Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie
etwa von den Zinsen leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die Familie
ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht. Es war also
bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die
für den Notfall zurückgelegt werden mußte; das Geld zum Leben aber mußte
man verdienen. Nun war aber der Vater ein zwar gesunder, aber alter
Mann, der schon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte und sich jedenfalls
nicht viel zutrauen durfte; er hatte in diesen fünf Jahren, welche die
ersten Ferien seines mühevollen und doch erfolglosen Lebens waren, viel
Fett angesetzt und war dadurch recht schwerfällig geworden. Und die
alte Mutter sollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Asthma litt,
der eine Wanderung durch die Wohnung schon Anstrengung verursachte,
und die jeden zweiten Tag in Atembeschwerden auf dem Sofa beim offenen
Fenster verbrachte? Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch
ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweise
so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden,
lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen
Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine zu spielen? Wenn
die Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ zuerst
immer Gregor die Türe los und warf sich auf das neben der Tür befindliche
kühle Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung und Trauer. Oft
lag er dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen Augenblick
und scharrte nur stundenlang auf dem Leder. Oder er scheute nicht die
Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die Fensterbrüstung
hinaufzukriechen und, in den Sessel gestemmt, sich ans Fenster zu lehnen,
offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher
für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Denn tatsächlich
sah er von Tag zu Tag die auch nur ein wenig entfernten Dinge immer
undeutlicher; das gegenüberliegende Krankenhaus, dessen nur allzu häufigen
Anblick er früher verflucht hatte, bekam er überhaupt nicht mehr zu
Gesicht, und wenn er nicht genau gewußt hätte, daß er in der stillen,
aber völlig städtischen Charlottenstraße wohnte, hätte er glauben können,
von seinem Fenster aus in eine Einöde zu schauen, in welcher der graue
Himmel und die graue Erde ununterscheidbar sich vereinigten. Nur zweimal
hatte die aufmerksame Schwester sehen müssen, daß der Sessel beim Fenster
stand, als sie schon jedesmal, nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hatte,
den Sessel wieder genau zum Fenster hinschob, ja sogar von nun ab den
inneren Fensterflügel offen ließ. Hätte Gregor nur mit der Schwester
sprechen und ihr für alles danken können, was sie für ihn machen mußte,
er hätte ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter. Die
Schwester suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen,
und je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihr natürlich auch,
aber auch Gregor durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon
ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief
sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, so sehr sie sonst
darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu ersparen, geradewegs
zum Fenster und riß es, als ersticke sie fast, mit hastigen Händen auf,
blieb auch, selbst wenn es noch so kalt war, ein Weilchen beim Fenster
und atmete tief. Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte sie Gregor
täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte er unter dem Kanapee und
wußte doch sehr gut, daß sie ihn gewiß gerne damit verschont hätte,
wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, sich in einem Zimmer, in dem sich
Gregor befand, bei geschlossenem Fenster aufzuhalten. Einmal, es war
wohl schon ein Monat seit Gregors Verwandlung vergangen, und es war
doch schon für die Schwester kein besonderer Grund mehr, über Gregors
Aussehen in Erstaunen zu geraten, kam sie ein wenig früher als sonst
und traf Gregor noch an, wie er, unbeweglich und so recht zum Erschrecken
aufgestellt, aus dem Fenster schaute. Es
wäre für Gregor nicht unerwartet gewesen, wenn sie nicht eingetreten
wäre, da er sie durch seine Stellung verhinderte, sofort das Fenster
zu öffnen, aber sie trat nicht nur nicht ein, sie fuhr sogar zurück
und schloß die Tür; ein Fremder hätte geradezu denken können, Gregor
habe ihr aufgelauert und habe sie beißen wollen. Gregor versteckte sich
natürlich sofort unter dem Kanapee, aber er mußte bis zum Mittag warten,
ehe die Schwester wiederkam, und sie schien viel unruhiger als sonst.
Er erkannte daraus, daß ihr sein Anblick noch immer unerträglich war
und ihr auch weiterhin unerträglich bleiben müsse, und daß sie sich
wohl sehr überwinden mußte, vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie
seines Körpers nicht davonzulaufen, mit der er unter dem Kanapee hervorragte.
Um ihr auch diesen Anblick zu ersparen, trug er eines Tages auf seinem
Rücken er brauchte zu dieser Arbeit vier Stunden das Leintuch
auf das Kanapee und ordnete es in einer solchen Weise an, daß er nun
gänzlich verdeckt war, und daß die Schwester, selbst wenn sie sich bückte,
ihn nicht sehen konnte. Wäre dieses Leintuch ihrer Meinung nach nicht
nötig gewesen, dann hätte sie es ja entfernen können, denn daß es nicht
zum Vergnügen Gregors gehören konnte, sich so ganz und gar abzusperren,
war doch klar genug, aber sie ließ das Leintuch, so wie es war, und
Gregor glaubte sogar einen dankbaren Blick erhascht zu haben, als er
einmal mit dem Kopf vorsichtig das Leintuch ein wenig lüftete, um nachzusehen,
wie die Schwester die neue Einrichtung aufnahm. In den ersten vierzehn
Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen,
und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig anerkannten,
während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil
sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten
oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die
Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, mußte sie
ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen
hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine
Besserung zu bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig
bald Gregor besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst
mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und
die er vollständig billigte. Später aber mußte man sie mit Gewalt zurückhalten,
und wenn sie dann rief: »Laßt mich doch zu Gregor, er ist ja mein unglücklicher
Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muß?«, dann dachte
Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme,
nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie
verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem
Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus
kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte. Der
Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während
des Tages wollte Gregor schon aus Rücksicht auf seine Eltern sich nicht
beim Fenster zeigen, kriechen konnte er aber auf den paar Quadratmetern
des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen ertrug er schon während
der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald nicht mehr das geringste
Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und
quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben auf der Decke
hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man
atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in
der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand,
konnte es geschehen, daß er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ
und auf den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper
ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei
einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort die neue
Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte er hinterließ
ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes , und
da setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in größtem Ausmaße
zu ermöglichen und die Möbel, die es verhinderten, also vor allem den
Kasten und den Schreibtisch, wegzuschaffen. Nun war sie aber nicht imstande,
dies allein zu tun; den Vater wagte sie nicht um Hilfe zu bitten; das
Dienstmädchen hätte ihr ganz gewiß nicht geholfen, denn dieses etwa
sechzehnjährige Mädchen harrte zwar tapfer seit Entlassung der früheren
Köchin aus, hatte aber um die Vergünstigung gebeten, die Küche unaufhörlich
versperrt halten zu dürfen und nur auf besonderen Anruf öffnen zu müssen;
so blieb der Schwester also nichts übrig, als einmal in Abwesenheit
des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erregter Freude kam die
Mutter auch heran, verstummte aber an der Tür vor Gregors Zimmer. Zuerst
sah natürlich die Schwester nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war;
dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte in größter Eile
das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das Ganze sah wirklich
nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes Leintuch aus. Gregor
unterließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu spionieren; er verzichtete
darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen, und war nur froh, daß sie
nun doch gekommen war. »Komm nur, man sieht ihn nicht«, sagte die Schwester,
und offenbar führte sie die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie
die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem
Platz rückten, und wie die Schwester immerfort den größten Teil der
Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören,
welche fürchtete, daß sie sich überanstrengen werde. Es dauerte sehr
lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man
solle den Kasten doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer,
sie würden vor Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kasten
in der Mitte des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber
sei es doch gar nicht sicher, daß Gregor mit der Entfernung der Möbel
ein Gefallen geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr
bedrücke der Anblick der leeren Wand geradezu das Herz; und warum solle
nicht auch Gregor diese Empfindung haben, da er doch an die Zimmermöbel
längst gewöhnt sei und sich deshalb im leeren Zimmer verlassen fühlen
werde. »Und ist es dann nicht so«, schloß die Mutter ganz leise, wie
sie überhaupt fast flüsterte, als wolle sie vermeiden, daß Gregor, dessen
genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme
höre, denn daß er die Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt,
»und ist es nicht so, als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten,
daß wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich
selbst überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir suchen das Zimmer
genau in dem Zustand zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor,
wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet und um so
leichter die Zwischenzeit vergessen kann.« Beim Anhören dieser Worte
der Mutter erkannte Gregor, daß der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen
Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie,
im Laufe dieser zwei Monate seinen Verstand hatte verwirren müssen,
denn anders konnte er es sich nicht erklären, daß er ernsthaft darnach
hatte verlangen können, daß sein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich
Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer
in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen
Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem
schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War
er doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem
nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte
entfernt werden; alles mußte bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel
auf seinen Zustand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn
hinderten, das sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden,
sondern ein großer Vorteil. Aber die Schwester war leider anderer Meinung;
sie hatte sich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung
der Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber
den Eltern aufzutreten, und so war auch jetzt der Rat der Mutter für
die Schwester Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens
und des Schreibtisches, an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern
auf der Entfernung sämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen
Kanapees, zu bestehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und
das in der letzten Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen,
das sie zu dieser Forderung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich
beobachtet, daß Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die
Möbel, soweit man sehen konnte, nicht im geringsten benützte. Vielleicht
aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit,
der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den Grete
jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender
machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu
können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die leeren Wände
beherrschte, würde wohl kein Mensch außer Grete jemals einzutreten sich
getrauen. Und so ließ sie sich von ihrem Entschlusse durch die Mutter
nicht abbringen, die auch in diesem Zimmer vor lauter Unruhe unsicher
schien, bald verstummte und der Schwester nach Kräften beim Hinausschaffen
des Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor im Notfall noch entbehren,
aber schon der Schreibtisch mußte bleiben. Und kaum hatten die Frauen
mit dem Kasten, an den sie sich ächzend drückten, das Zimmer verlassen,
als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um zu sehen, wie
er vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte. Aber zum
Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurückkehrte, während
Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen hielt und ihn allein hin und
her schwang, ohne ihn natürlich von der Stelle zu bringen. Die Mutter
aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt, er hätte sie krank machen können,
und so eilte Gregor erschrocken im Rückwärtslauf bis an das andere Ende
des Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, daß das Leintuch
vorne ein wenig sich bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerksam
zu machen. Sie stockte, stand einen Augenblick still und ging dann zu
Grete zurück. Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, daß ja nichts
Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden,
wirkte doch, wie er sich bald eingestehen mußte, dieses Hin- und Hergehen
der Frauen, ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden,
wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er mußte
sich, so fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib bis an den
Boden drückte, unweigerlich sagen, daß er das Ganze nicht lange aushalten
werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb
war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten
sie schon hinausgetragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest eingegrabenen
Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerschüler, ja
sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben geschrieben hatte,
da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten Absichten zu prüfen,
welche die zwei Frauen hatten, deren Existenz er übrigens fast vergessen
hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon stumm, und man hörte
nur das schwere Tappen ihrer Füße. Und so brach er denn hervor
die Frauen stützten sich gerade im Nebenzimmer an den Schreibtisch,
um ein wenig zu verschnaufen , wechselte viermal die Richtung
des Laufes, er wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da
sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in
lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und preßte
sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat.
Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiß
niemand wegnehmen. Er verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers,
um die Frauen bei ihrer Rückkehr zu beobachten. Sie
hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon wieder; Grete hatte
den Arm um die Mutter gelegt und trug sie fast. »Also was nehmen wir
jetzt?« sagte Grete und sah sich um. Da kreuzten sich ihre Blicke mit
denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter
behielt sie ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur Mutter, um diese vom
Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd und unüberlegt:
»Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins Wohnzimmer
zurückgehen?« Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte die
Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen.
Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und
gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen. Aber Gretes
Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur Seite, erblickte
den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete, rief, ehe ihr eigentlich
zum Bewußtsein kam, daß das Gregor war, was sie sah, mit schreiender,
rauher Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit ausgebreiteten Armen,
als gebe sie alles auf, über das Kanapee hin und rührte sich nicht.
»Du, Gregor!« rief die Schwester mit erhobener Faust und eindringlichen
Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten Worte, die sie unmittelbar
an ihn gerichtet hatte. Sie lief ins Nebenzimmer, um irgendeine Essenz
zu holen, mit der sie die Mutter aus ihrer Ohnmacht wecken könnte; Gregor
wollte auch helfen zur Rettung des Bildes war noch Zeit ;
er klebte aber fest an dem Glas und mußte sich mit Gewalt losreißen;
er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne er der Schwester irgendeinen
Rat geben, wie in früherer Zeit; mußte dann aber untätig hinter ihr
stehen; während sie in verschiedenen Fläschchen kramte, erschreckte
sie noch, als sie sich umdrehte; eine Flasche fiel auf den Boden und
zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor im Gesicht, irgendeine ätzende
Medizin umfloß ihn; Grete nahm nun, ohne sich länger aufzuhalten, soviel
Fläschchen, als sie nur halten konnte, und rannte mit ihnen zur Mutter
hinein; die Tür schlug sie mit dem Fuße zu. Gregor war nun von der Mutter
abgeschlossen, die durch seine Schuld vielleicht dem Tode nahe war;
die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die Schwester, die bei der
Mutter bleiben mußte, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun,
als zu warten; und von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann
er zu kriechen, überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel
endlich in seiner Verzweiflung, als sich das ganze Zimmer schon um ihn
zu drehen anfing, mitten auf den großen Tisch. Es verging eine kleine
Weile, Gregor lag matt da, ringsherum war es still, vielleicht war das
ein gutes Zeichen. Da läutete es. Das Mädchen war natürlich in ihrer
Küche eingesperrt und Grete mußte daher öffnen gehen. Der Vater war
gekommen. »Was ist geschehen?« waren seine ersten Worte; Gretes Aussehen
hatte ihm wohl alles verraten. Grete antwortete mit dumpfer Stimme,
offenbar drückte sie ihr Gesicht an das Vaters Brust: »Die Mutter war
ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Gregor ist ausgebrochen.«
»Ich habe es ja erwartet«, sagte der Vater, »ich habe es euch ja immer
gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht hören.« Gregor war es klar, daß
der Vater Gretes allzu kurze Mitteilung schlecht gedeutet hatte und
annahm, daß Gregor sich irgendeine Gewalttat habe zuschulden kommen
lassen. Deshalb mußte Gregor den Vater jetzt zu besänftigen suchen,
denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit noch Möglichkeit. Und so flüchtete
er sich zur Tür seines Zimmers und drückte sich an sie, damit der Vater
beim Eintritt vom Vorzimmer her gleich sehen könne, daß Gregor die beste
Absicht habe, sofort in sein Zimmer zurückzukehren, und daß es nicht
nötig sei, ihn zurückzutreiben, sondern daß man nur die Tür zu öffnen
brauche, und gleich werde er verschwinden. Aber der Vater war nicht
in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken; »Ah!« rief er gleich
beim Eintritt in einem Tone, als sei er gleichzeitig wütend und froh.
Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und hob ihn gegen den Vater.
So hatte er sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er jetzt
dastand; allerdings hatte er in der letzten Zeit über dem neuartigen
Herumkriechen versäumt, sich so wie früher um die Vorgänge in der übrigen
Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefaßt sein müssen,
veränderte Verhältnisse anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch
der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher
Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden der
Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht
imstande war, aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme
gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an
ein paar Sonntagen im Jahr und an den höchsten Feiertagen zwischen Gregor
und der Mutter, die schon an und für sich langsam gingen, immer noch
ein wenig langsamer, in seinen alten Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig
aufgesetztem Krückstock sich vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen
wollte, fast immer stillstand und seine Begleitung um sich versammelte?
Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine straffe blaue Uniform
mit Goldknöpfen gekleidet, wie sie Diener der Bankinstitute tragen;
über dem hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich sein starkes
Doppelkinn; unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick der schwarzen
Augen frisch und aufmerksam hervor; das sonst zerzauste weiße Haar war
zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur niedergekämmt.
Er warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer
Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee
hin und ging, die Enden seines langen Uniformrockes zurückgeschlagen,
die Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem Gesicht auf Gregor zu.
Er wußte wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Füße
ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte über die Riesengröße seiner Stiefelsohlen.
Doch hielt er sich dabei nicht auf, er wußte ja noch vom ersten Tage
seines neuen Lebens her, daß der Vater ihm gegenüber nur die größte
Strenge für angebracht ansah. Und so lief er vor dem Vater her, stockte,
wenn der Vater stehenblieb, und eilte schon wieder vorwärts, wenn sich
der Vater nur rührte. So machten sie mehrmals die Runde um das Zimmer,
ohne daß sich etwas Entscheidendes ereignete, ja ohne daß das Ganze
infolge seines langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung gehabt
hätte. Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden, zumal er
fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände oder den Plafond
für besondere Bosheit halten. Allerdings mußte sich Gregor sagen, daß
er sogar dieses Laufen nicht lange aushalten würde; denn während der
Vater einen Schritt machte, mußte er eine Unzahl von Bewegungen ausführen.
Atemnot begann sich schon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in seiner
früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge besessen hatte. Als
er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu sammeln, kaum
die Augen offenhielt; in seiner Stumpfheit an eine andere Rettung als
durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon vergessen hatte, daß ihm
die Wände freistanden, die hier allerdings mit sorgfältig geschnitzten
Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt waren da flog knapp
neben ihm, leicht geschleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm
her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb
vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte
sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz
hatte er sich die Taschen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf
zu zielen, Apfel für Apfel. Diese kleinen roten Äpfel rollten wie elektrisiert
auf dem Boden herum und stießen aneinander. Ein schwach geworfener Apfel
streifte Gregors Rücken, glitt aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender
drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen,
als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel
vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in
vollständiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick sah
er noch, wie die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor der schreienden
Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester hatte
sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verschaffen,
wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen
Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd
über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher
Vereinigung mit ihm nun versagte aber Gregors Sehkraft schon
die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben
bat.
Een
bookwerk met 60 pagina's met reproducties van vele van deze potloodtekeningen
is uitgegeven door Porte Folio
in 1992
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METAMORPHOSEN © Martin Linnartz,
St. Agnesstraat
4, 6241 CB Bunde, The Netherlands.
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No
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